16. Dezember 2020

Wann werden die Geistesgaben aufhören?

Wann werden die Geistesgaben aufhören?

Bibeltext: 1. Korinther 13,8-13

Stehen sämtliche im Neuen Testament erwähnten Geistesgaben der heutigen Gemeinde zur Verfügung?

Auf diese Frage werden in der evangelikalen Welt vorrangig zwei Antworten gegeben:

Continuationismus: Ja, alle erwähnten Geistesgaben bestehen bis heute fort und dienen weiterhin dem Bau der Gemeinde, sodass die apostolische Anordnung nach den Geistesgaben zu streben und sie nicht zu vernachlässigen, weiterhin ihre Gültigkeit hat. Diese Position nennt man Continuationismus. Das Wort stammt vom lateinischen Verb „continuare“ und bedeutet „fortlaufen, fortfahren, aneinanderreihen, erweitern, zusammenhängen, fortdauern, andauern“.

Cessationismus: Nein, einige der eher außergewöhnlichen Gaben wie Prophetie (ein menschlicher Bericht einer göttlichen Offenbarung), Sprachenrede (das Reden/Beten in unbekannten oder nicht gelernten Sprachen) sowie Heilung und Dämonenaustreibung standen der christlichen Gemeinde nur zu Lebzeiten der Apostel zur Verfügung. Da diese Gaben als „Zeichen“ für die Echtheit der Apostel fungierten und ihre Evangeliumsverkündigung unterstützen, werden diese Gaben spätestens seit Beginn des 2. Jahrhunderts nicht mehr benötigt und haben seither aufgehört zu existieren. Diese Position nennt man Cessationismus. Das Wort stammt vom lateinischen Verb „cessare“ und bedeutet „zögern, aufhören, nachlassen, ruhen, untätig sein“.

1. Korinther 13,8-13 spricht eindeutig davon, dass es tatsächlich eine Zeit geben wird, in der die außergewöhnlicheren Gaben nicht mehr notwendig sein werden. Dabei gibt Paulus in diesem Text starke Hinweise darauf, was genau geschehen muss, damit dies eintrifft. Es muss erst das Vollkommene kommen, ein Zeitpunkt in der es umfängliche Erkenntnis gibt und wir von Angesicht zu Angesicht erkennen werden. Exegetisch ist es nicht haltbar hier von einem abgeschlossenen Bibelkanon als das „Vollkommene“ auszugehen. Vielmehr weist die Wendung „von Angesicht zu Angesicht“ in der Bibel immer auf eine persönliche Begegnung hin (vgl. 1Mo 32,30; Ri 6,22; 1Joh 3,2; Off 22,4). Das erklärt warum Paulus bereits zu Beginn des Briefes die Korinther (1Kor 1,7) darin lobte, dass sie eifrig ihre Charismen gebrauchen, während sie auf die Wiederkunft Jesu Christi warten.

In Wahrheit hat Paulus kein Interesse über die Beendigung der Charismen im hier und jetzt zu philosophieren. Eine Spekulation über den Zeitpunkt eines möglichen Gabenendes im Gemeindezeitalter steht für Paulus an keiner Stelle zur Debatte. Vielmehr will er durch die Passage klarstellen: Wenn Liebe in der ewigen Vollkommenheit wichtig ist, wie notwendig ist Liebe dann erst recht im hier und jetzt – in der Unvollkommenheit! Und eben diese Liebe soll die Gemeinde im Charismengebrauch prägen.

Dennoch führen Cessationisten immer wieder vorrangig zwei Ereignisse für das Aufhören der außergewöhnlichen Gaben an: der Abschluss des biblischen Kanons sowie das Sterben der letzten Apostel Jesu Christi. Der Vorwurf der im Raum steht, hat Dr. Wayne Grudem wie folgt zusammengefasst: „Die Hinzufügung weiterer Worte aus fortgesetzten prophetischen Äußerungen würde im Grunde entweder eine Hinzufügung zur Bibel oder eine Konkurrenz zur Bibel darstellen. In beiden Fällen würde die Genügsamkeit der Bibel selbst infrage gestellt und in der Praxis ihre einzigartige Autorität in unserem Leben kompromittiert.“ Darauf ist vierfaches zu entgegnen.

Die Bibel kennt kein „Apostelzeitalter der Charismen“

Der unvoreingenommene Leser wird unmöglich nach der Lektüre des Neuen Testaments zu dem Schluss gelangen können, dass sämtliche außergewöhnlichen Charismen wie z.B. die Prophetie/Weissagung für einen heutigen Jesus-Nachfolger unverfügbar wären. Die Bibel wurde für Christen im ersten Jahrhundert geschrieben mit der Erwartungshaltung, dass Gottes Geist auf übernatürliche Weise durch Charismen wirkt. An keiner Stelle gibt uns die Bibel den Hinweis darauf, dass sich das Wirken des Heiligen Geistes innerhalb der Gemeinde signifikant und dramatisch ändern würde, wenn der Kanon abgeschlossen würde oder der letzte Apostel stirbt. Über diese Ereignisse als Einschnitte für das Geistwirken wird keine Auskunft gegeben. Somit steht und fällt der Cessationismus mit einer Voraussetzung, die von der Schrift alleine nicht belegbar ist. Der Cessationismus lebt von einem theologischen Gerüst, dass von außen an die Bibel herangetragen wird, aber nicht aus der Bibel allein entspringt. Darum helfen Kardinalpassagen wie 2Tim 3,16-17 dem Cessationismus in Wahrheit nicht weiter. Denn schließlich ist dieses Bibelwort, so wichtig es für unser Gemeindeleben ist,

  1. kein biblisches Abschlussvotum, da die Schrift zu diesem Zeitpunkt aktuell noch geschrieben wurde.
  2. Bereits Timotheus, der ja an die Aussagen aus 2Tim 3,16f glaubte, sowohl im 1Tim als auch 2Tim ermutigt wird, Charismen auszuüben.
  3. Stimmt es natürlich, dass „alle Schrift nützlich ist“. Jedoch schreibt Paulus nicht: „Die Schrift ist alles, was nützlich ist“! Wenn 2Tim 3,16f aussagen würde, dass die Schrift alleine vom Nutzen für einen Christen ist, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie es um die Nützlichkeit von Gebet, Gemeinde, Älteste, Seelsorge, Rat durch Freunde, Umstände, Menschenverstand und Naturbeobachtungen bestellt ist. All’ diese Dinge sind auch weiterhin von Nutzen und stehen mit der Bibel nicht in Konkurrenz. Denn die Bibel selbst ist es, die uns darin bestärkt, von all’ diesen Dingen zu profitieren. Ein sola-scriptura-Christ kann darum ruhigen Gewissens nach Charismen wie der Prophetie streben, weil seine Bibel ihn wiederholt dazu auffordert und ermutigt.

Prophetie mündet nicht in Verschriftlichung/Kanonisierung

Es ist ein Irrglaube, dass Prophetie im Neuen Testament den Zweck hatte normative, universale, allgemeingültige sowie immerwährende Wahrheit in der Gemeinde zu etablieren und diese sodann als „Heilige Schrift“ zu verschriftlichen. Die Kritik vonseiten des Cessationismus, man müsse jede neue Gemeindeprophetie der Bibel hinzufügen, muss ins Leere laufen, weil kein Beweis erbracht werden kann, dass dies jemals geschah. Es kursierten in den vielen Gemeinden des 1. Jh. unzählige Prophetien in den Gemeinden, die weder verschriftlich, gesammelt, weiterergeben und erst recht nicht kanonisiert wurden.

Prophetie besitzt nicht die Autorität der Bibel

Prophetie steht nicht in Konkurrenz zur biblischen Lehre, weil sie nicht in derselben Kategorie agiert bzw. Liga spielt. Paulus unterscheidet strickt zwischen Gemeinde-Prophetie und Apostel-Lehre (1Kor 14,37-40!). Deshalb kann Paulus zur Prüfung von Prophezeiungen aufrufen (1Thess 5,19-22). Als Prüfmittel soll den Christen die apostolische mündliche sowie schriftliche Überlieferung dienen. Prophetie wird anhand der Bibel geprüft, weil die biblische Lehre eine höhere Autorität hat. Christliche Glaubensgrundlage ist ein für alle Mal in Gottes Wort überliefert. In der Bibel offenbart Gott den Weg zum ewigen Leben und vermittelt der Gemeinde Jesu Seine universale, allgemeingültige, immerwährende Wahrheit. Die Bibel steht fest und wird nicht durch prophetische Worte ergänzt oder aktualisiert.

Weil die Bibel in einer ganz anderen Autoritätsliga spielt, werden nicht kurzerhand die prophetisch Begabten zur Leitung der Gemeinde angewiesen. Die Gemeindeleitung obliegt den Ältesten, die nicht zwangsläufig prophetisch begabt sein müssen, sondern Lehrfähigkeit besitzen sollen, weshalb Timotheus wiederholt explizit zur Lehre aufgerufen wird. Weil Gemeinde durch apostolische Lehre geleitet wird, warnt Jakobus 3,1 vor voreiliger Amtsausübung und fordert wenige Lehrer in der Gemeinde. Zur Prophetie werden hingegen von Paulus ausdrücklich alle ermutigt (1Kor 14,31). So setzte Paulus auch prophezeiende Frauen (1Kor 11,5) voraus, jedoch keine Frauen in der hauptverantwortlichen Lehrtätigkeit (1Tim 2,12). Die Apostel selbst verliehen der Prophetie nicht dieselbe Autorität wie ihrer eigenen apostolischen ein für alle Mal überlieferten Lehre.

Prophetie hat oft subjektiven Nutzen

Cessationisten haben überdies oft ein sehr eindimensionales Verständnis von Prophetie, welche scheinbar stets normierend für alle Christen, an allen Orten und zu allen Zeiten gelten solle. Das neutestamentliche Zeugnis legt den Schwerpunkt hingegen auf den subjektiven und situativen Nutzen der Prophetie im Leben der Gläubigen und beschreibt seelsorgerliche, offenbarende, evangelistische, wegweisende, visionäre, freisetzende, berufende Aspekte der Prophetiegabe (siehe PDF). Dieser sehr individuelle, situative und persönliche Nutzen ist für den einzelnen Gläubigen natürlich nicht so in der Bibel zu finden. Deshalb bleibt es auch weiterhin notwendig als Gemeinde die Erbauung durch die Dienste der Charismen anzustreben und alles das zu tun, wozu uns die Bibel und Apostel aufrufen: „Strebt nach der Liebe; eifert aber nach den geistlichen Gaben, besonders aber, dass ihr prophezeit!“ (1Kor 14,1)